- China: Die Zeit der »ungleichen Verträge«
- China: Die Zeit der »ungleichen Verträge«Das chinesische Kaiserreich, noch im späten 18. Jahrhundert als die einzige verbliebene Großmacht Asiens allgemein respektiert, musste 1842 seine Niederlage im Opiumkrieg gegen Großbritannien eingestehen und demütigende Einschränkungen seiner nationalen Souveränität hinnehmen. Der Niedergang des nach einer langen Periode von Frieden und relativem Wohlstand übervölkerten Riesenlandes traf zusammen mit dem Aufstieg Großbritanniens zur führenden Seemacht und ersten Industrienation der Welt.»Fremde Teufel« an der Küste ChinasDie Legalisierung von Opiumimporten aus Britisch-Indien war im Krieg gegen China (1840—42) nur ein nebengeordnetes Ziel der Briten. Vorrangig ging es um dessen Öffnung für den westlichen Handel und für westliche Missionare sowie allgemein um die Einbeziehung Chinas in das, was europäische Staatsmänner als die Gemeinschaft der »zivilisierten« Nationen definierten. Zwischen 1842 und 1860, dem Ende des 2. Opiumkriegs, auch Lorchakrieg genannt, schlossen China und die Westmächte eine Reihe von Verträgen ab, die den ausländischen Vertragspartnern einseitige Privilegien im Reich der Mitte einräumten: einen ungewöhnlich niedrigen Einfuhrzoll, der von einer ausländisch geprägten Behörde überwacht wurde; das Recht der Niederlassung und Geschäftstätigkeit in vielen chinesischen Städten, den treaty ports oder offenen Häfen; rechtliche Extraterritorialität von Ausländern; Missionsfreiheit im gesamten Reich. Diese Verträge, von chinesischen Publizisten später als »ungleich« bezeichnet, waren der mandschurischen Qingdynastie aufgezwungen worden, schlossen aber durchaus auch Elemente, etwa die Einrichtung von Kaufmannsenklaven, ein, mit denen man bereits seit Jahrhunderten fremde »Barbaren« unter Kontrolle gehalten hatte.Dass China für den Freihandelsimperialismus geöffnet wurde, bedeutete keineswegs den Verlust seiner Unabhängigkeit. Bis 1895 wurde kein einziges größeres Territorium des Reiches kolonialer Herrschaft unterworfen. Nur in Schanghai, dem mit Abstand größten und wirtschaftlich bedeutendsten der treaty ports, und in Hongkong, das, 1842 abgetreten, erst unter den Briten ein wichtiger Überseehafen wurde, übten Europäer die Kontrolle über größere chinesische Bevölkerungsgruppen aus. Jenseits der treaty ports konnte von »Öffnung« jahrzehntelang kaum die Rede sein. China wurde keineswegs von ausländischen Waren überschwemmt. Die Importe, die es gab, wurden überwiegend von leistungsfähigen einheimischen Kaufmannsorganisationen landesweit verbreitet. Als einzige größere Gruppe von Ausländern drangen katholische und protestantische Missionare nach 1860 auch in entlegenere Gegenden Chinas vor.Die sichtbarste Wirkung der »Öffnung« Chinas bestand darin, dass sich eine Kluft auftat zwischen dem »blauen« China, der westlich beeinflussten Küste, und dem Binnenland, dem »gelben« China. Am maritimen Saum des Reiches, vor allem in der rasch wachsenden Metropole Schanghai, entstanden neue gesellschaftliche Gruppierungen, die sich langsam mit europäischer Kultur und den Praktiken des modernen Kapitalismus vertraut machten.Der größte Bürgerkrieg des 19. JahrhundertsDie Geschichte Chinas im 3. Viertel des 19. Jahrhunderts wurde von einem Ereignis beherrscht, das in den Augen der Zeitgenossen die Bedrohung aus dem Westen weit in den Schatten stellte: dem Taipingaufstand (1850—64). Er war von weiteren großen Rebellionen vor allem der muslimischen Völker an den Grenzen des Reiches begleitet. Am Beginn des Taipingaufstandes standen eine soziale Krise in Südchina, die maßgeblich von den Umständen der »Öffnung« hervorgerufen worden war, und die von Missionstraktaten angeregten Visionen des charismatischen Hong Xiuquan. Er verband Sendungsbewusstsein — er hielt sich etwa für den jüngeren Bruder Christi — mit einer großen Organisationsbegabung. Es gelang ihm binnen kurzer Zeit, in der südlichen Provinz Guangxi Zehntausende von Anhängern um sich zu scharen. 1851 erklärte sich Hong Xiuquan zum König des »Himmlischen Reichs des großen Friedens« (taiping tianguo) und nahm den Kampf gegen die Mandschuregierung in Peking und deren Vertreter in den Provinzen auf. Bald richtete sich die revolutionäre Wut der Aufständischen gegen die gesamte regionale Oberschicht. Die Massenheere der Taiping eroberten eine Stadt Südchinas nach der anderen. 1853 errichteten sie in Nanking, der alten Haupstadt der Mingdynastie, ihr Hauptquartier. Die Taipingbewegung war eine einzigartige Mischung aus sozialer Revolution, kollektiver Heilssuche und gegen die Mandschus gerichteter Fremdenfeindlichkeit. Sie stand in der Tradition älterer Bauernaufstände, fand ihren stärksten Rückhalt aber schließlich in den großen Städten. In Programm und Praxis spielte der urkommunistische Gleichheitsgedanke eine große Rolle.Machtkämpfe in der Führung der Taiping, der bald sehr schlagkräftig organisierte Widerstand der herausgeforderten Elite und, weitaus weniger wichtig, die Unterstützung der europäischen Mächte für die Qingdynastie bremsten das Vordringen der Taipingheere und drängten sie schließlich auf ihre letzte Bastion Nanking zurück. Die Unterdrückung des Aufstandes war so gründlich, dass von der Gegenkultur der Taiping kaum Spuren blieben. Die blutige Rebellion der Taiping und ihre ebenso brutale Bekämpfung verwandelten Süd- und Mittelchina in das weltweit größte Schlachtfeld des 19. Jahrhunderts.Prof. Dr. Jürgen Osterhammel, FreiburgWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:China: Reformansätze 1860 bis 1895Grundlegende Informationen finden Sie unter:China unter den Mandschu (1644 bis 1843): Von der Großmacht zum Spielball der europäischen MächteBartke, Wolfgang: Die großen Chinesen der Gegenwart. Ein Lexikon 100 bedeutender Persönlichkeiten Chinas im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1985.Ch'en, Jerome: China and the West. Society and culture 1815-1937. London 1979.Fairbank, John K.: Geschichte des modernen China. 1800-1985. Aus dem Englischen. München 21991.Japan-Handbuch, herausgegeben von Horst Hammitzsch. Stuttgart 31990.Osterhammel, Jürgen: China und die Weltgesellschaft. Vom 18. Jahrhundert bis in unsere Zeit. München 1989.Spence, Jonathan D.: Das Tor des Himmlischen Friedens. Die Chinesen und ihre Revolution 1895-1980. Aus dem Englischen. Taschenbuchausgabe München 1992.
Universal-Lexikon. 2012.